Bei einem Austauschprogramm zwischen Hamburg und der indischen Großstadt Hyderabad lernten 18 Hamburger Schüler für zweieinhalb Wochen die indische Kultur kennen. Im Sinne der Bestrebungen der Bundesregierung, das deutsch-indische Verhältnis weiter zu fördern, wurde so der Dialog zwischen den Jugendlichen ermöglicht.

Schüler Dorian Hehn, 15 Jahre, berichtet von seinen Erlebnissen während des Austauschprogramms:

Es ist laut, voll und dreckig. Hunde, Ziegen, Hühner und heilige Kühe – alle sind auf den Straßen zu finden. Scheinbar haben nur Menschen Probleme dabei, diese überfüllten Straßen zu überqueren. Obdachlose vor teuren Sportclubs und mehr Auto-Rikschas, als es in New York Taxis gibt. Vor den Shoppingmalls stehen frisch gewaschene, nach Reinigungsmittel duftende Autos. Ständig hupt jemand ohne ersichtlichen Grund. Und überhaupt ist es nie still. Bei 45 Grad Celsius werden in Zeitungspapier eingewickelter Fisch und lebende Hühner verkauft. Alle paar Meter muss man sich die Nase zuhalten. Die Menschen sehen für uns Europäer auf den ersten Blick alle gleich aus – schwarze Haare, dunkle Augen und dunkle Haut. Für umgerechnet weniger als zehn Cent bekommt man eine Cola. Ein Inder kann sich entweder mehrere Angestellte leisten – oder muss an Kreuzungen Kinderspielzeug verkaufen.

Dieses Bild des Landes, das wir schon vor unserer Reise im Kopf hatten – ein oberflächliches Klischee zusammengesetzt aus Nachrichtenclips und Slumdog Millionaire – hat sich größtenteils bestätigt. Doch Indien ist noch viel mehr. Indien ist bunt und lebendig. Hier finden so viele Kulturen Platz, so viele Religionen ihren Ursprung. 1,2 Milliarden Menschen sprechen mehr als 1.600 Sprachen in 28 Bundesstaaten. Das Land hat eine Fläche von rund 3.280.000 qkm – etwa neun Mal so groß wie Deutschland – und 146 Mal mehr Einwohner. Es gibt Berge, Wüsten, Regenwälder. Und Probleme. Armut, Obdachlosigkeit und Hungersnot. Den Hindu-Moslem-Konflikt, den Kaschmir-Konflikt mit Pakistan und die allgegenwärtige Korruption. Ein Großteil der Bevölkerung ist zu arm, um Steuern zu zahlen. Alle anderen bestechen die Beamten.

Hyderabad – mit Google, Microsoft und Co das IT-Zentrum, das Silicon Valley Indiens – ist die viertgrößte Stadt des Landes und Hauptstadt des Bundesstaates Andhra Pradesh. Etwas über zwei Wochen waren wir dort und haben mit unseren Gastfamilien die indische Kultur gelebt, haben mit den Händen gegessen, religiöse Bräuche und Traditionen kennengelernt und sind in Auto-Rikschas gefahren. Doch das Projekt hat auch eine wissenschaftliche Seite: Zusammen haben wir an einem Rechercheprojekt über erneuerbare Energien gearbeitet, haben uns die Produktion von Solarzellen, Wege, möglichst CO2-neutral zu leben, und mehr angeschaut. Vor allem eins haben wir dabei festgestellt: Beide Länder, sowohl Deutschland als auch Indien, haben ein weitaus größeres Potenzial an erneuerbaren Energien, als bisher genutzt wird.

Wie die meisten Deutschen war ich wirklicher Armut vor meinen Besuch in Hyderabad nie begegnet. Ich hatte nie eine knöcherne Hand an meinem Rücken gespürt, die sich an meinem T-Shirt festkrallt und mich um ein paar Rupien anbettelt. Ich hatte noch nie einen Jungen gesehen, vielleicht zehn Jahre alt, der den ganzen heißen Tag in einer Nebenstraße eines großen Bazars steht, Plastikspielsachen verkauft — und dabei glücklich aussieht. Als ich in seine Augen blicke, weiß ich, er wird am Abend nichts zu essen haben. Auch diese Seite, auf die kein Inder stolz ist, gehört zu ihrem Land.

Ich gehe mit meiner Gastschwester Vandana, 16 Jahre, durch eine staubige Seitenstraße. Sie sagt, gleich müsse ich mir die Nase zu halten, denn wir gehen an einer Müllkippe vorbei. Halb ironisch erklärt sie mir, die Müllabfuhr in Indien sei nicht so zuverlässig. Mit „Müllabfuhr“ meint sie alte Männer, die den Abfall in Karren sammeln und ihn irgendwo an eine staatliche Stelle verkaufen. Zwei Kühe suchen im Müll nach Essbarem. Ich zücke meine Kamera, obwohl ich weiß, dass sie es nicht mag, wenn die schlechten Seiten von Indien, wie den stinkenden Kanal auf unserem Weg zur Schule oder eben diese Müllkippe, fotografiert werden. Doch dann sagt sie etwas überraschend Ehrliches: „You know, I’ve seen a lot of animals looking for something to eat in the trash. That’s okay. But I’ve seen a man looking for food in the trash. And that hurts.“ („Weißt du, ich habe schon eine Menge Tiere gesehen, die im Abfall nach etwas zu essen suchen. Das ist okay. Aber ich habe auch mal einen Mann gesehen, der versucht hat, Essen im Müll zu finden. Und das tut weh.“)

Wir sitzen auf der Terrasse, blättern in der Zeitung und ich frage Vandana, was ihrer Meinung nach das größte Problem Indiens sei. „Corruption“, sagt sie so überzeugt, als wäre es völlig offensichtlich und faltet die Zeitung zusammen. So könne eine Demokratie nicht funktionieren. Durch Korruption wird der breiten Masse der Zugang zu echter Demokratie – einer Staatsform, in der eigentlich die Mehrheit der Bevölkerung den Kurs bestimmen sollte – verwehrt. China ist ohne Demokratie wirtschaftlich erfolgreicher. Und dennoch ist sie stolz darauf, dass Indien eine Demokratie hat, denn obwohl es größere Probleme gibt, legt Indien Wert auf eine demokratische Grundordnung. Auch wenn es so offensichtlich an der Umsetzung hapert

Ich frage Vandana, wie Indien seine Probleme lösen könnte. Auf diese Frage kommt ihre Antwort nicht so schnell und selbstverständlich. Sicher ist es wichtig für Indien, den internationalen Wettbewerb der Billigproduktions-Länder nicht gegen China und andere zu verlieren. Sicher könnte der Schlüssel die Bekämpfung der Korruption sein. Sicher muss zuerst das Hungerproblem gelöst werden. Was Indien alleine vermutlich nicht schaffen wird.

Sicher ist: Indien hat noch einen weiten Weg vor sich. Und doch ist sie stolze Inderin. Sie ist stolz darauf, dass Indien es geschafft hat, so viele unterschiedliche Menschen, Sprachen und Kulturen zu vereinen. Denn das ist die ursprüngliche Idee des Subkontinents: eine starke Union von vielen einzelnen Staaten. Wenn sie die Nationalhymne hört, dann bleibt Vandana stehen. Und ignoriert meine typisch deutsche unpatriotische Verwunderung.

Text / Fotos: Dorian Hehn (im Rahmen eines Austauschprogramms der Hamburger Gymnasien Eppendorf, Heilwig und Lise-Meitner mit der Stadt Hyderabad im Januar 2012)