Singen

"Bevor es das Radio gab, haben wir alle gesungen, jeder Mann und jede Frau, den ganzen Tag lang. Wenn man etwa im Jahr 1350 durch die Straßen von Florenz spazierte, hörte man jeden Handwerker und jeden Händler seine Lieder trällern, weltliche wie kirchliche, Volkslieder, höische Minnelieder und Kanzonen von Dante. Die Freudlosigkeit des puritanischen Zeitalters hat viel dazu beigetragen, dass diese fröhliche Art und Weise, seiner Stimmung Ausdruck zu verleihen, weitgehend verschwunden ist. Doch hier und da wird immer noch gesungen, auf Baustellen und in der Werkstatt. Singen Sie also! Singen Sie wieder, wie wir einst gesungen haben!"

Auf dem Klo sitzen

"Das Klo ist die Einsiedlerklause des Menschen in seinem häuslichen Reich. Unbedrängt vom Trubel der Arbeit oder der Familie kann er dort für eine kleine Weile allein sein und über sein Dasein reflektieren. Es ist auch ein schöpferischer Ort. So hat der chinesische Philosoph Ouyang Xiu mit den drei »Aufs« beschrieben, wo er am besten nachdenken konnte: »Auf dem Kopfkissen, auf dem Rücken eines Pferdes und auf der Toilette«. Wir ziehen uns auf das Klo zurück, um einen Raum zum Denken zu haben, zur Meditation und zur Kontemplation."

Um die Wette Grimassen schneiden

"Grimassen schneiden ist ein alter Begriff aus der Welt des Theaters, und viel ausdrucksvoller als »das Gesicht verziehen« ist er außerdem. Jeder Mitspieler muss eine Grimasse schneiden, die so grässlich ist wie möglich. Halten Sie, wenn Sie wollen, das Ganze mit einer Polaroid-oder Digitalkamera fest. Gewinner ist, wem die furchtbarste oder komischste Fratze gelingt. Sehen Sie sich eine alte Kathedrale an, wenn Sie Anregungen brauchen."

Auf Bäume klettern

"Weshalb sollten wir Geld ausgeben, um in einen dieser höllischen, antiseptischen, geruchsfreien Plastik-Spielparks für Kinder zu gehen, wenn es überall Bäume gibt, auf die man klettern kann? Jeder Baum ist anders, jeder einzigartig, jeder zauberhaft, und alle warten sie bloß darauf, erobert zu werden. Bäume sind zum Klettern da, zum Darinsitzen, zum Daranriechen. Werden Sie zum Vogel."

Den Wind in den Haaren spüren

"Der Gipfel der Klippe ist zum Greifen nah. Sie stützen die Hände auf Ihre Oberschenkel, während Sie nach Luft schnappen, um mehr Sauerstoff in Ihre Lungen zu saugen. Stolz blicken Sie zurück auf den Weg, den Sie schon hinter sich gebracht haben. Nur ein kleines Stück noch, dann sind Sie am Ziel. Wenn Sie genug Kraft geschöpft haben, gehen Sie weiter, Schritt für Schritt. Die leichte Brise wird stärker mit jedem Meter, den Sie sich dem Gipfel nähern. Auf einmal fällt das Terrain steil zum Meer hin ab, und der Wind, der darüberfegt, peitscht Ihnen die Luft ins Gesicht. Die Aussicht ist grandios, aber noch mehr genießen Sie es - die Arme triumphierend in die Höhe gereckt, die Augen geschlossen, wie der wirbelnde Wind um Ihren Kopf braust. Dieser Wind, der sich weit draußen über dem Meer sammelt und auf seinem tanzenden, krachenden Weg über die Wellen an Stärke gewinnt, erreicht schließlich den Strand und hält Sie für einen Moment in seinem Griff gefangen. Der Knall, wenn er Sie passiert, dröhnt in Ihren Ohren, und allmählich umfängt er Sie ganz - ein unablässiger Luftstrom, der Ihr verzücktes Gesicht liebkost."

Sex am Morgen

"Anders als der rasende Leistungssex zum Abschluss einer nächtlichen Sause ist Sex am Morgen herrlich unangestrengt, entspannend und langsam. Die Augen noch schlaftrunken, in die Kissen zurückgelehnt und ein glückliches Kichern auf den Lippen, spielen Sie mit Ihrem Liebespartner. Sie nehmen ihn in sich auf und verlieren sich in ihm, wenn sich Füße und Pos unter den Laken wälzen. Sie zaubern ein Grinsen auf sein Gesicht, noch ehe das Licht des neuen Tages in seine Augen scheint. Anschließend genießen Sie in wohliger Ruhe die Sonnenstrahlen des Samstagvormittags. Dazu noch ein Tablett mit frischen Brötchen und einer Kanne Tee. Wenn es eine bessere Art gibt, den Tag zu beginnen, dann habe ich sie noch nicht entdeckt."

Lächeln

"Interessanterweise lächeln wir nicht nur, wenn wir glücklich sind, sondern auch, wenn wir beunruhigt sind oder Angst haben. Wir schmunzeln noch, wenn das große Gelächter vorbei ist, und holen unser Lächeln aus der psychologischen Schublade, um unsere Furcht zu verscheuchen oder um uns selbst zu trösten, wenn gerade niemand da ist, um uns in den Arm zu nehmen. Das macht das Lächeln zum Darwin´schen Pfeil des Optimismus, der die DNS des Menschen durchdringt. Ein Lächeln ist alles, was bleibt, wenn der letzte Atem verhaucht ist."

Wolken beobachten

"Wenn wir innehalten in unserem erdgebundenen Gewusel und nach oben blicken, sehen wir, dass uns das Firmament ein ständig wechselndes Schauspiel bietet. Wolken verändern ihre Gestalt, sind immer in Bewegung und schweben dahin, keine zwei Sekunden ist der Himmel derselbe. Mit dem Lauf der Sonne ändern sich auch die Farben, und das Wechselspiel von Wind, Temperatur und Sonne erzeugt unaufhörlich neue, spektakuläre Bilder. Wolken nehmen pausenlos andere, fantastische Formen an und scheinen manchmal sekundenlang sogar Dingen aus unserer Welt zu gleichen: einem Esel, einer Schildkröte oder einer Bratpfanne. Gleich darauf sind sie wieder verschwunden, ständig sich verändernd, ohne feste Gestalt und doch nicht formlos, beständig und doch stets im Fluss."

Klatsch

"Uns über das Tun und Lassen unserer Nachbarn und Freunde das Maul zu zerreißen ist eine höchst willkommene Ablenkung davon, vor unserer eigenen Tür zu kehren. Wirklich? Hätte ich nie gedacht. Ich fand immer, sie machten so einen glücklichen Eindruck. Hat er? Ach, die Arme. Na, ich will ja nicht Partei ergreifen, aber ich fand immer, dass er zu viel hinter den Frauen her war. Keine Ahnung, wie sie das ausgehalten hat. Hier bei uns ist es ja wie im Fernsehen, sagen wir, bis uns klar wird, dass wir gar kein Fernsehen brauchen, aus dem einfachen Grund, weil wir ja »hier bei uns« haben."

Tanzen

"Leider schwingen die meisten von uns das Tanzbein nur auf Hochzeiten nach Einnahme großer Mengen Alkohols, genügend jedenfalls, um alle Hemmungen abzuwerfen und den eigenen Körper halbwegs im Takt der Musik zu bewegen. Das ist eine Schande, keine Frage. Vor gar nicht so langer Zeit noch tanzten wir jeden Abend nach dem Essen. Tanzlehrer gingen in vielen Häusern ein und aus. Tanzen ist Wirklichkeitsflucht und Vergnügen pur: Als wirbelnde Derwische vergessen wir unsere Sorgen und unseren Streit. Tanzen kann außerdem Vorspiel zum Sex sein und uns daran erinnern, dass das Leben dazu da ist, gelebt und genossen zu werden. Fröhlichkeit, Festlichkeit und Rituale sind nahezu verschwunden aus unserem Leben. Bringen wir sie wieder hinein."

»Das Buch der Hundert Vergnügungen«

Tom Hodgkinson, Dan Kieran

Illustriert von Stephanie F. Scholz, aus dem Englischen von Michael Hein, erscheint als HardcoverPlus - mit Code zum einmaligen Download des E-Books

Verlag Rogner & Bernhard
218 Seiten
Euro 17,99
ISBN 978-3-95403-020-0
Erschienen August 2013