Interview: Alexandra Bersch
Als ich in den Raum im Waldorf Astoria gerufen und vorher instruiert werde, den Schauspieler bitte mit „Sir Ben“ anzusprechen, wische ich noch schnell die schweißnassen Hände an meiner Jeans ab. Sir Ben sitzt an einem kleinen Tisch in der hinteren rechten Ecke des großen Zimmers, allem Anschein nach ein Konferenzsaal. Gerade wurde er nochmal frisch gepudert, sein Anzug sitzt perfekt. Er erhebt sich, der knapp 1,70 m kleine, zierliche Mann, dessen Aura jeden Winkel des Raumes bis an die Decke ausfüllt. Sein Händedruck ist warm und trocken, fest und ein bisschen faltig. Aber das darf er auch sein, Sir Ben wird 70. Ganz Gentleman bietet er etwas zu trinken an, ich lehne dankend ab und stelle meine erste Frage. Sir Ben antwortet – und für die nächsten 20 Minuten fühle ich mich wie eine Schülerin in der mündlichen Prüfung. „Von jeder Rolle, die du spielst, bleibt immer etwas an dir haften“, hat Sir Ben mal in einem Interview gesagt. Dieses Mal war es der Lehrer. In meinen Gedanken mache ich einen Knicks vor Sir Ben. Einen durch und durch ernstgemeinten.

Ist "Der Medicus" ein besonderes Buch für Sie?
Sir Ben Kingsley: Nein. Ich habe es nie gelesen.

Sie haben es nie gelesen?
Das erste Mal kam die Geschichte in Form eines Drehbuchs zu mir. Eigentlich wurde es mir sogar zwei Mal geschickt. Nachdem ich es zum ersten Mal gelesen habe, mochte ich es nicht besonders, hatte aber das Gefühl ich könnte etwas aus der Rolle machen, die damals noch ganz anders war, als das, was Sie heute auf der Leinwand gesehen haben. Ich erinnere mich noch, dass ich sehr viele Notizen und Änderungsvorschläge zurückgeschickt habe. Es wurde dann einfach umgeschrieben und erneut an mich gesendet. Zu der Zeit hatte ich das große Glück, Teil eines Dokumentationsfilms zu sein, der bei einer wundervollen Ausstellung im Victoria and Albert Museum und auch im Fernsehen gezeigt wurde. Die Ausstellung hieß "1001 Inventions" (inventions (engl.) = Erfindungen, Anm. d. Red.).

Ja, davon habe ich gelesen.
Echt? Haben Sie? Es war eine tolle Möglichkeit für mich, denn ich habe durch diese Dokumentation sehr viel Material bekommen, das ich mir ansehen konnte. Da wurde mir richtig bewusst, dass es damals wirklich zwei Welten gab, die parallel existierten. Die Dunkelheit in Europa, wo alles im Dreck versank und ein paar Tausend Meilen weiter gab es dieses Metropolis voller Menschen, die lernten, heilten, debattierten. Ich erfuhr, dass Ibn Sina eben kein Mann war, der versuchte, Bildung in die Wildnis zu bringen. Er war einer von Hunderten, die brillante Mathematiker, Astronomen, Architekten, Poeten, Schriftsteller, Physiker, Chemiker, Biologen, Botaniker und noch so vieles mehr waren. Und er war Teil der Aufklärungsbewegung, die sein Land, seinen Kulturkreis überschwemmte. Durch das Wissen um die Welt damals konnte ich Ibn Sina mit einer gewissen Sicherheit spielen. Dem Autor des finalen Skriptes ist es gelungen, einen Roman, der ja eine innere Erfahrung ist, in einen Film umzuwandeln, der eine äußere Erfahrung ist. Mit dem Drehbuch hielt ich eine Art wunderschöne Karte Englands und der islamischen Welt zu der damaligen Zeit in den Händen und ich wollte von dieser tollen Karte nicht wieder zurück zum Roman. Das wäre irgendwie verwirrend gewesen. Durch das Drehbuch war ich selbst schon ein Teil davon und hatte überhaupt kein Bedürfnis danach, das Buch zu lesen. Ich war überhaupt nicht neugierig auf das Original. Ist das schlimm?

Nein, ich denke nicht. Es ist eine andere Herangehensweise.
Ja, genau das war es.

Gibt es eine reale Person – vielleicht in Ihrem Bekanntenkreis, die sie bei der Darstellung Ibn Sinas inspiriert hat?
Ich denke, das waren viele Menschen. Es ist einfach eine bestimmte Art von Lehrer, Mentor, Patriarch. Ich habe viele solcher Menschen getroffen und sie wurden zu Stimmen in meinem Kopf. Sie sind herausragend auf ihrem Gebiet und scheren sich kein bisschen darum, was die Leute von ihnen denken, ob sie sie mögen. Da gibt es keinen Funken von Gefühl in ihrem Körper, es interessiert sie einfach nicht. Sie wollen gehört werden, sie wollen lehren, ihren Job machen und es ist ihnen vollkommen egal, ob sie am Ende des Tages ein „Ich mag dich“ von jemandem hören. Weil es ihnen nicht wichtig ist. Großartige Regisseure und andere Personen, die ich kenne, haben diese bewundernswerte Gabe und ich habe mich oft gefragt, worin genau sie besteht. Ist es Intelligenz? Ist es Vorstellungskraft? Aber es ist nichts davon. Die Gabe ist, dass es ihnen einfach egal ist, ob sie gemocht werden, bewundert, beneidet. Sie googeln sich nicht selbst. Es ihnen nämlich schlicht und ergreifend vollkommen egal. Ich treffe immer wieder auf Menschen, die diese Gabe haben und bewundere sie dafür. Diese Charaktereigenschaft war etwas, das ich Ibn Sina geben konnte. Es kümmert ihn nicht, ob seine Studenten ihn mögen. Er will nur, dass sie ihm zuhören.

Teilen Sie diese Leidenschaft für das Lehren, das Verbreiten von Wissen und Weisheit?
Ich glaube, jeder Schauspieler, der wirklich durch und durch Schauspieler ist, ist Teil einer uralten Tradition des Geschichten-Erzählens. Diese Tradition ist sehr eng verwandt mit der des eigentlichen Geschichten-Erzählers, des Heilers und des Priesters. Vor einer sehr langen Zeit war dies ein und dieselbe Person. Erst später kam die Aufteilung der Aufgaben in unterschiedliche Branchen. Diese Person war der Schamane, jemand, der für seinen Stamm all dieses war. Jeder Schauspieler, der seine Arbeit wirklich ernst nimmt, wird wissen, dass eine Geschichte zu erzählen automatisch mit Heilen und Lehren verbunden ist.

Sie haben für jede Rolle, die Sie spielen, einen Satz, der den Charakter dieser zusammenfasst. Welcher war es für Ibn Sina?
(überlegt) Ich denke, das wäre "Wir behandeln nicht die Krankheit, wie behandeln den Patienten." Es ist ein sehr starker Satz. Das reine Ziel, die Motivation im Heilen, Behandeln und Verbreiten von Wissen zu finden, musste ich als Darsteller Ibn Sinas verkörpern. Musste ihn in seiner eigenen kleinen Welt, in dieser akademischen Blase leben lassen. Er hatte ja tatsächlich nur minimal Privatleben oder Vergnügungen, keine Hobbys. Er hatte keine Interessen außerhalb der Madrasa. Natürlich war er Philosoph, hatte eine wissenschaftliche Neugier für das Universum, für das Heilen, für die Menschheit, die Evolution. Aber es ist stets die gleiche Herangehensweise. Sehr wissenschaftlich, nicht sozial. Er hatte auch keinerlei Interesse an Politik. Natürlich war es da ein Schock für ihn, als seine Universität in Flammen stand. Er lebte nur für das Heilen und das Lehren und hat daher nichts von der Revolution außerhalb der Wände der Madrasa mitbekommen, nichts von den Veränderungen, die in der Welt passierten.

Glauben Sie, Neugier ist der Schlüssel zum Erfolg?
Sie ist auf jeden Fall ein wichtiger Teil davon. Neugier ist verbunden mit Empathie und ich denke, diese Eigenschaften sind der Schlüssel zu einem erfüllten Leben. Sie helfen uns, Bindungen aufzubauen, Zugehörigkeit zu empfinden.

Sehen Sie eine Parallele zwischen der Herangehensweise eines Schauspielers an eine neue Rolle und der eines Arztes an den menschlichen Körper?
Als Schüler hatte ich Physik, Chemie und Biologie, welche mich die wissenschaftliche Herangehensweise an Dinge gelehrt haben, die ich bis heute bei meiner Arbeit verwende. So auch bei der Rolle des Ibn Sina. Wenn man einige Verhaltensmuster eines Menschen wissenschaftlich untersucht, erkennt man Dinge, die man auf emotionaler Ebene nicht sehen würde.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie sehr gerne Väter und Patriarchen spielen. Ibn Sina nimmt auch die Rolle des Patriarchen ein, vor allem für Rob Cole. Hat sich das auch ein bisschen auf Ihre Beziehung zu Tom Payne am Set übertragen?
Ich war meistens für mich am Set, habe mit niemandem gesprochen. Ich glaube, ich habe zu der Zeit zwei andere Rollen gelernt. Aber ich sozialisiere mich auch sonst nicht wirklich bei der Arbeit. Die Beziehung zu den Leuten am Set spielt sich nur während des eigentlichen Drehs ab und danach fühle ich, dass ich alles ausgedrückt und gesagt und meinen Job gemacht habe und ziehe mich zurück. Dann fahre ich ins Hotel, gehe noch einmal meine Zeilen für den nächsten Drehtag durch und dann gehe ich ins Bett. Ich richte meine Energie voll und ganz auf die Arbeit.

In einem Interview, das Sie kürzlich im englischen Fernsehen gegeben haben, sagten Sie, dass Sie ihr musikalisches Gehör benutzen, um den Rhythmus einer Person, die sie spielen sollen, zu erfassen. Wie würden Sie Ibn Sinas Rhythmus beschreiben?
Das kommt eigentlich eher vor, wenn ich jemanden spiele, der einen anderen Akzent oder Dialekt spielt als ich. Das war bei Ibn Sina ja nicht der Fall. Aber wenn ich darüber nachdenken müsste, dann würde ich alle süßen, verspielten Töne entfernen und die harten hervorheben. Ibn Sina geht es um Fakten, nicht um Zuneigung – und das hört man auch seiner Sprache an.

Um noch einmal auf die Ausstellung „1001 Inventions“ zurückzukommen – Finden Sie es wichtig, dass die westliche Welt von Zeit zu Zeit daran erinnert wird, dass eine Menge bahnbrechender Erfindungen und Entdeckungen in der islamischen Welt gemacht wurden? Wir neigen ja dazu, das zu vergessen…
Ich denke, umfassende Bildung ist heute sehr lebendig. Die islamische Welt erstreckte sich ja einst über tausende von Kilometern bis nach Spanien und hier in Europa sind wir näher an den anderen Kulturen, mehr von ihnen beeinflusst. Die Gefahr liegt bei den amerikanischen Schülern und Studenten. Denn diese können ihre Bildung einfach bei den Landesgrenzen enden lassen und das könnte auf lange Sicht schlimme Konsequenzen haben. Hier in Europa sind wir offener und haben ein ausbalancierteres Bild von der Geschichte. Wir wissen, dass die Geschichte eines jeden wichtig ist, ganz egal ob gut oder böse.

 

DER MEDICUS

ab 25.12.2013 im Kino
Regie: Philipp Stölzl
im Verleih von Universal Pictures International Germany
mit Tom Payne, Stellan Skarsgård, Olivier Martinez, Emma Rigby, Elyas M’Barek, Fahri Yardim und Sir Ben Kingsley