Irland: Ein Roadtrip zu Wasser
Hausboot fahren auf dem Shannon – eine Geschichte von mittelalterlichen Kerkern, heiß geliebten Kartoffeln und spontanen Begegnungen mit der Ufervegetation.
Text und Fotos: Alexandra Bersch
„In Irland regnet es eigentlich nur zwei Mal die Woche. Ein Mal für vier Tage und ein Mal für drei“, sagt unser Taxifahrer, der uns vom Flughafen Dublin zum Hafen in Carrick-on-Shannon bringt. Die Wettergötter scheinen uns wohlgesonnen zu sein an diesem Nachmittag. Ende September empfängt uns die Grüne Insel mit blauem Himmel, Sonnenschein und milden Temperaturen. Zwei rasende Stunden im Linksverkehr später sind wir an unserem ersten Ziel und besichtigen die Boote, zwei 14-Meter-Kolosse des Typs „Magnifique“ aus der Flotte von Emerald Star – in Deutschland bekannt unter dem Namen le boat. 15 Minuten Einführung, das war's. Laut Aussage des Personals ist es nicht schwer, so ein Boot zu steuern. Der Shannon ist breit, und wenn es mal unter einer Brücke durchgehen soll, passt das auch schon alles. Nur keine Panik – gilt nicht für mich. Ich habe Panik. Bis in die Haarspitzen. Ich, die aufhört zu atmen, wenn sie LKW auf der Autobahn überholt und von Zeit zu Zeit fremde Leute auf der Straße darum bittet, für sie einzuparken. Die anderen Mitglieder unserer Anfänger-Crew sind da ruhiger. Zuversichtlicher. Gut für mich – sollen sie steuern.
Für den ersten Tag ist ein kleines bisschen Rumfahren und Einparken vollkommen ausreichend und Grund genug, sich ins irische Nachtleben zu stürzen, denn schließlich ist Samstag. Pub-Tag. Nach einer Stärkung mit Kohl-Schinken-Terrine, Black Pudding (was sich anhört wie etwas verboten Schokoladiges ist in Wirklichkeit Blutwurst) und Kartoffeln in allen Variationen geht es zu Cider, Guinness und warmem Whiskey mit Zitrone und Honig in den Pub am Hafen. Trotz der knapp zweistelligen Temperaturen sind die Straßen und Lokale voll von nacktbeinigen Frauen in kürzesten Kleidchen und 12-cm-High-Heels, mit aufwendig zurechtgemachten Haaren und Galaabend-Make-up. „So geht man hier aus“, sagt unsere orts- und kulturkundige Reiseleiterin Ruth. Wir fühlen uns underdressed in Wanderschuhen und Windjacken. Auf dem Packzettel stand „praktische, wetterfeste Garderobe“. Aber so ein richtiges Touristengefühl hat doch auch etwas für sich. Darauf – Slainté!
„Frühstück gibt’s um acht, um neun legen wir ab.“ Klare Ansage. Ich bin ein Frühaufsteher, kein Problem also. Schwierig wird es nur, wenn man mit Plätschern und Knacken als schlafbegleitende Geräusche nicht vertraut ist. Die erste Nacht auf dem Boot verbringe ich einem Dämmerzustand und schrecke jede Stunde auf, weil ich denke: Oh mein Gott! Alle sind schon wach und duschen und nur ich liege hier noch rum! Als ich das erste Mal aus meiner Kajüte stürze, ist es fünf Uhr morgens. Natürlich duscht niemand. Drei Stunden später habe ich den Kaffee mehr als nötig.
Als wir an Deck stehen und uns an Geschwindigkeits- und Fahrbahnbegrenzungen halten, zeigt sich die Insel erneut von ihrer strahlendsten Herbstsonnenseite. Unser Etappenziel lautet Boyle. Eine kleine Ortschaft am Ufer des Shannon, berühmt für die Boyle Abbey, eine mittelalterliche Klosterruine aus dem 13. Jahrhundert. Zusammen mit dem pensionierten Geschichtslehrer Tony begeben wir uns auf eine architekturhistorische Zeitreise und stellen fest: Der Lonely Planet lügt. Denn Geister begegnen uns nicht in den alten Gemäuern. Dafür aber des beste Apple Crumble der Welt! Diesen gibt es in Clarke's Pub in Boyle. Noch nie, wirklich noch nie in meinem ganzen Leben habe ich einen besseren Nachtisch gegessen! Säuerliche, mehlige Äpfel, überbacken mit einer Kruste aus Mehl, Butter und Zucker. Warm serviert mit Sahne und Custard, einer dickflüssigen, karamelligen Art Vanillesauce.
Unser nächstes Ziel ist dafür voll von Geistern und Geschichten. Philip, ehemals Bauingenieur und jetzt Guide für Wanderungen durch die irische Wildnis, führt uns vorbei an schwarzgesichtigen Schafen hinauf zum Carrowkeel Megalithic Cemetery in den Bricklieve Mountains. Philip ist irgendwas zwischen Mitte 40 und Mitte 50. Seine Haare grau, seine Kleidung aus High-Tech-Funktionstextilien. Sein breites Lächeln wird begleitet von einem struppigen Schnurrbart in der Farbe seiner Haare. Er erinnert mich sehr an meinen Onkel. Auch unser Taxifahrer von Christy Brady Taxis bietet neben Fahrdiensten archäologische Führungen durch seine Heimatregion an. In einem wirschaftskrisengebeutelten Land ist es gut, ein zweites Standbein, einen Plan B zu haben.
Der Boden unter unseren Füßen fühlt sich gleichzeitig weich und fest an. Torf. Im hohen Profil der Wanderschuhe bleiben die glänzend schwarzen Hinterlassenschaften der Schafe stecken. Noch nie hat es mir so wenig ausgemacht, in Exkremente zu treten. Mehrfach. Es gehört irgendwie dazu. Die Luft ist frisch und je höher wir kommen, desto windiger wird es. Fleece, Windjacke, lange Unterhosen und eine warme Kopfbedeckung fühlen sich zwar im Tal zu warm an, sind aber keinesfalls übertrieben für diesen Ausflug.
Oben am Hügelgrab angekommen erwartet uns eine Überraschung: Man kann das Grab, das Philip für uns angepeilt hat, tatsächlich betreten! In verrottete Leinentücher gewickelte Leichen werden wir aber nicht finden, sagt er lachend. Denn bestattet wurden in den Grabanlagen nur ein paar Knochen – und die sind längst fort. Keine Indiana-Jones-Momente, mir soll es recht sein. In kleinen Grüppchen betreten wir nach einander das kalte, stille Dunkel, nur dürftig erhellt von Philips Taschenlampe. Auch ohne Gebeine kann ich die Geister großer Krieger, mutiger, starker Männer mit langen Haaren und schlechtem Atem spüren, die Fellschuhe dunkelrot durchtränkt vom Blut ihrer Feinde. Kurz denke ich darüber nach, wie abgefahren es wäre, einen der lose geschichteten Steine vom Grab einfach mit nach Hause zu nehmen. Als Souvenir. Doch ich wage es nicht. Zu groß ist mein Respekt (und die Angst) vor den Seelen der Toten. Die Mystik des Ortes macht mich ein wenig nervös – schnell raus aus dem Grab. Wir sind nicht die einzigen oben auf dem Hügel. Ein deutscher Mann ohne Jacke hat es sich auf dem weichen Boden gemütlich gemacht und erzählt, dass er mal drei Wochen in einem alten Grab gewohnt hat. Aus Liebeskummer. Nur er und ein Rucksack voll Whiskey. Trennungsschmerz auf irische Art, nichts für Weicheier, die Flanellpyjamas und gemütliche Betten zum Ausheulen bevorzugen.
Unser Roadtrip zu Wasser führt uns auf den Lough Key. Inmitten dessen steht eine kleine Insel mit einer mittelalterlich anmutenden Burgruine. Getaucht in das warme Licht der untergehenden Sonne scheint sie Bootstouristen auf einen Besuch einzuladen. „Kommt vorbei, entdeckt meine Geheimnisse...“. Leider bricht die Dunkelheit schneller an als gedacht und wir können die Burg nur vom Deck unseres in der Marina festgemachten Bootes betrachten. Auf den zweiten Blick sind die Gemäuer aber viel zu gut erhalten, um aus dem Mittelalter zu stammen – und tatsächlich, das, was man heute auf der Insel sehen kann, ist eine Party-Burg aus dem 19. Jahrhundert, erbaut von der Familie King, die ein Anwesen am Ufer des Lough Key bewohnten und gerne Gäste zu ausschweifenden Veranstaltungen auf ihrer kleinen Insel einluden. Doch geht man weiter zurück in der Geschichte – so unser Guide am nächsten Tag, gibt es doch eine tragisch-romantische Legende, die sich Einheimische über die Insel erzählen. Die Geschichte von Uma MacDermot und ihres Geliebten Thomas. Ein wenig Romeo und Julia, sterben doch beide am Ende, obwohl eigentlich keiner hätte sterben müssen. Auf ihrem Grab wächst ein Rosenbusch.
Es ist schwer in Worte zu fassen, was Irland mit mir macht. Am dritten Tag ist der Himmel zwar grau, aber es fällt mir im Traum nicht ein, genervt davon zu sein. Das ganze Land, jeder Mensch, ja, sogar der Kaffee ("Irish" natürlich, mit einem Schuss Whiskey) strahlen eine Ruhe und Gelassenheit aus, die ansteckend ist. Ob wir versuchen, Nudelwasser für neun Personen auf dem Gasherd im Boot zu kochen zu bringen, um letztendlich zu scheitern, oder ob wir am Ufer des Shannon-Erne-Kanals sitzen und mit langen Plastikruten kleine, ungenießbare Fische angeln. Alles geschieht hier ohne Stress.
Immer wieder begegnen uns Menschen, die schon längst hätten aufgeben können – und doch immer weiter machen. So wie Niall aus Ballinamore, Golfer mit einem Handicap von vier, der eine Profi-Karriere in den USA ausgeschlagen hat, um bei seiner Familie in Irland zu bleiben und sie zu unterstützen. Nebenberuflich gibt er Golfstunden, hauptberuflich unterrichtet er Mathematik und Architektur. „Aber leben kann man davon kaum noch. Der Staat hat meine Stundenzahl um die Hälfte gekürzt. So ist es doch für etwas gut, dass ich Golf spielen kann.“ Oder Seamus aus Leitrim Village, das knapp 500 Einwohner zählt. Erst gehörte ihm ein Supermarkt, dann eine Metzgerei und heute – im selben Haus, betreibt er einen E-Bike-Verleih und eine Schießhalle. An seiner rechten Hand trägt er den irischen Claddagh-Ring. Ein Symbol für Liebe, Freundschaft und Treue. Je nach Beziehungsstatus trägt man ihn anders. Seamus ist verheiratet und müsste ihn an der linken Hand mit der Spitze des Herzens zu seinem Herzen hin tragen. „Ach, ich vergesse ständig, wie rum der gehört“, sagt er entschuldigend und lacht. Irisch-entspannt eben.
Am dritten Abend an Bord fühlt es sich schon fast an wie ein Zuhause und ich schlafe tief und traumlos, um am nächsten Morgen von strömendem Regen geweckt zu werden. Uns stehen elf Schleusen auf dem Shannon-Erne-Kanal bevor, nach dem Frühstück geht es auch schon los. Fahren (ich nicht, die anderen), anhalten, einer geht von Deck, um mit der Chipkarte die Schleuse zu bedienen: Wasser raus, Tore auf, Boot rein, Taue um die Poller werfen und gut festhalten, Tore zu, Wasser rein und warten. Die Schleusen sehen aus wir mittelalterliche Kerker. Feuchte Wände, von Algen und Moos bewachsen, es riecht schimmlig-klamm und manchmal ist der Höhenunterschied, den unser Boot überwinden muss, so hoch, dass ich Zeit habe, meiner Fantasie freien Lauf zu lassen und mich ein bisschen zu fühlen wie ein gefangener Pirat. Meine Finger und Handflächen schmerzen von der kalten, feuchten Luft und dem Klammergriff um die Taue.
Unter Deck ist es warm, wir kochen süßen Tee und warmen Eintopf, um unsere durchnässten und durchgefrorenen Körper aufzuwärmen. Es ist schrecklich ungemütlich draußen – und doch können wir alle nicht genug kriegen davon! Und irgendwann hört es auch wieder auf zu regnen und wir können noch ein paar Stunden den Anblick der herbstlichen Farbenpracht gespickt mit flauschigen Kühen am Ufer genießen. Es ist unser letzter Tag zu Wasser und meine Mitbootbewohner weigern sich, zu akzeptieren, dass ich wirklich der schlechteste Bootsführer der Welt bin – also muss ich das Steuer übernehmen. Wie bei Überholmanövern auf der Autobahn höre ich zwischendurch auf zu atmen. Das riesige Boot reagiert auch überhaupt nicht wie ein Auto oder ein Fahrrad auf Lenkbewegungen. Es reagiert erst gar nicht und dann zu sehr. Panisch kurble ich am Steuerrad. „Ganz ruhig“, sagen die anderen. Ich spüre eine warme Hand auf meiner Schulter. „Atmen, Alex. Es ist gar nicht so schwer. Lenk nicht so viel. Warte, bis das Boot reagiert. Versuch, es zu fühlen.“ Ich versuche es. Und gebe doch schließlich mit dem Aufschrei „Gemüse!“ und Loslassen des Steuers dem Drängen des Bootes zu einer Begegnung mit der Ufervegetation nach. Ein Glück fahren wir langsam, nichts und niemand kommt zu Schaden. Schuldbewusst verlasse ich den Kapitänsplatz und fege Blätter und Zweige von Deck, während die anderen Crewmitglieder sich nicht einkriegen können vor Lachen. Ich hatte sie gewarnt, dass ich eigentlich nur als Wecker, Koch und Gallionsfigur auf einem Boot zu gebrauchen bin.
Zum Abschied essen wir nochmal irisch, in einer urigen Kneipe in Ballinamore. Es gibt Fish 'n' Chips und Lasage 'n' Chips. Dicke, irische Pommes aus dem Nationalgemüse der Insel: Kartoffeln. Nachdem zwischen 1845 und 1852 rund eine Million Iren der Kartoffelpest zum Opfer gefallen waren und zwei Millionen wegen der aus Missernsten entstandenen Hungersnot ausgewandert sind, lieben die Iren ihre Kartoffel mehr denn je. Zu jedem Essen gibt es Kartoffeln. Pürierte, gebratene, frittierte, gekochte, geröstete, gebackene, große, kleine. Mein Fazit nach fünf Tagen irischem Essen: Magenschmerzen. Denn neben Kartoffeln ist Butter die unumgängliche Zutat in allen traditionellen Gerichten.
Nach einem letzten Whiskey an Deck und einer ruhigen Nacht auf dem Wasser verlassen wir am nächsten Tag mit ein bisschen Herzschmerz „unsere“ Boote und fahren im Großraumtaxibus zurück nach Dublin, wo es dann heißt: Fare thee well!