Zurück in die Zukunft: Der erste Elternabend
„Hilfe, ich habe ein Schulkind!“
Noch vor den Kindern durften unsere Redakteurin und ihr Freund zusammen mit den anderen Eltern die Lehrerinnen (kein „/innen“ notwendig hier, es sind wirklich nur Frauen) kennenlernen , die ihre Kinder die kommenden vier Jahre unterrichten werden. Für uns hat sie die Dinge aufgeschrieben, die ihr beim ersten Elternabend ihres Lebens so durch den Kopf gegangen sind, während sie mit ca. 50 Müttern und acht Vätern in der Aula der Grundschule saß. Dem Ort, an dem sie vor über 20 Jahren selbst eingeschult wurde.
So eine Einschulung ist eine ziemlich emotionale Geschichte. Obwohl er schon seit einer geraumen Zeit alleine laufen, essen, sprechen und aufs Klo gehen kann, wird mir erst jetzt so richtig bewusst, dass mein Sohn kein Baby mehr ist. Der Zeitpunkt, ab dem ich ihn nie wieder „Kindergartenkind“ nennen kann, rückt immer näher. Noch knapp zwei Monate, dann ist er ein waschechter Erstklässler. Mit Schulranzen, Turnbeutel und Stundenplan. Mit AGs und Diktaten und Mathe-Tests. Mit Hausaufgaben und über zwölf Wochen Ferien im Jahr. Ohne Fu und Fara allerdings, die sind nämlich – zumindest an unserer Schule – schon im Ruhestand. Schade eigentlich. Ich mochte Fu und Fara und habe mich irgendwie darauf gefreut, orange Socken mit Kulleraugen und schwarzen Haaren zu stricken. Meine Fu und Fara waren damals hellblau. Wir waren frisch eingewandert und arm, da musste die Wolle benutzt werden, die gerade da war.
Mein Freund und ich sind früh dran und haben Zeit, uns die anderen Eltern anzugucken. Außer einer Nachbarin kennen wir niemanden. Die anderen Kinder aus unserer Kita kommen an andere Grundschulen. Wir leben in einer ganz normalen norddeutschen Kleinstadt und das sieht man den Teilnehmern des Elternabends an: Auf der einen Seite sitzt Ghetto, auf der anderen Geld, dazwischen sitzen wir, das „Dazwischen“.
Woher kommt diese Angst davor, dass unser Kind bei der falschen Person landet?
Schon auf dem kurzen Weg zum Elternabend habe ich mich dabei ertappt, dass ich bei jeder Frau, die Richtung Schule ging, gedacht habe „Hoffentlich wird das nicht unsere Lehrerin!“. Aber wieso eigentlich? Woher kommt diese Angst davor, dass unser Kind bei der falschen Person landet? Musste ich unter meiner Grundschullehrerin leiden? War sie ein frustriertes, diskriminierendes Miststück? Nein, sie war alles andere als das. Kenne ich Geschichten von Grundschülern, denen das passiert ist? Nein. Warum also denke ich „Oh Gott, bitte lass diese Ökolatschenfrau mit der bunten Baskenmütze nicht unsere Lehrerin sein!“ oder „Oh nein, nicht die fette Vierzigjährige, die zu ihren grauen Haaren steht!“ So oberflächlich bin ich doch sonst nicht! Aber bis wir erfahren, wer es sein wird, müssen wir uns noch gedulden. Ich sehe mich um und entdecke eine Lehrerin, die schon zu meiner Zeit unterrichtet hat. Sie war die Klassenlehrerin meiner Cousine, vor 20 Jahren. Ob sie sich wohl an mich und meine Familie erinnert? Die anderen Frauen, die hinten in der Aula mit ihr am Tisch sitzen kenne ich nicht – was nicht gerade beruhigend auf meine Ungeduld wirkt. Hoffentlich wird die Verkündung der Klassen der erste Programmpunkt…
Soll ich jetzt Teig oder Geld spenden?
… Nein, leider nicht. Um fünf nach halb acht kommt die Rektorin nach vorne. Sie sieht müde aus, die Haut fahler als sonst, die Haare strähniger. Ist die Zeit vor den Sommerferien, wenn alle Noten schon feststehen, für Schüler und Eltern meist ziemlich entspannt, so sind es für sie wahrscheinlich die anstrengendsten Wochen im Jahr. Ich würde nicht mit ihr tauschen und die Einschulung organisieren wollen. Sind klare Regeln und Termine aufgestellt, so gibt es doch immer wieder Menschen, die der Überzeugung sind, sich nicht daran halten zu müssen. Man sieht ihr die zig Anrufe, unangemeldeten Besuche in ihrem Büro und die Diskussionen mit überengagierten Helikoptereltern wirklich an. Die arme Frau braucht dringend Ferien.
Der erste Programmpunkt an diesem Abend sind die sogenannten Frühstücks-Mütter. Nach vorne kommen zwei Frauen, die stellvertretend für eine Gruppe von Müttern sprechen, die zwei Mal die Woche Obst und Gemüse und belegte Vollkornbrötchen zu kleinen Preise an die Schüler verkaufen. Eine Initiative, die es schon seit sehr vielen Jahren an den Schulen im Landkreis gibt. Bedenkt man, wie hoch die Dunkelziffer der Nutellabrote und anderer Ungesundigkeiten oder aber leerer Brotdosen in den Schulranzen deutscher Grundschüler ist, können wir uns glücklich schätzen, dass es so etwas gibt. Wenn ich nicht berufstätig wäre, würde ich wahrscheinlich mitmachen, ich liebe Broteschmieren und Gemüstestifteln.
„Zwei Mal im Jahr backen wir Waffeln“, sagt die eine Frühstücks-Mutter. „Dafür sammeln wir Teigspenden.“ Soll ich jetzt Teig oder Geld spenden? Das fragen sich wohl so einige, aber für Fragen bleibt keine Zeit. Wir haben einen straffen Zeitplan und als nächstes betritt die Nachmittagsbetreuung vertreten durch zwei Frauen die Bühne. Die ältere der beiden trägt Beige und Hellblau, die Jüngere Pink und Orange und spricht mit russischem Akzent. Eine Power Point Präsentation wird gestartet, unter der Decke schließen sich High Tech Rollos. Die Nachmittagsbetreuung ist in unserem Landkreis kostenlos, was wirklich, wirklich gut ist. Wenn ich bedenke, dass unsere Familie in Schleswig-Holstein über 200 Euro monatlich für den Hort zahlt, läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Wir haben großes Glück. Auf der Leinwand vor uns sehen wir Fotos von Kindern bei unterschiedlichen Aktivitäten. Kochen, Basteln, Karate, Tanzen, Voltigieren und… Schlafen?! Bieten die etwa auch eine Schlaf-AG an? Nein, natürlich nicht. Das ist nur die Ruhe-Stunde. Die Frau in Beige und Hellblau erzählt, dass die Voltigier-AG sehr beliebt ist, dass jedoch nicht alle, wie wollen, auch daran teilnehmen können. Es gibt nämlich nur ein Pferd, das das mitmacht. Das arme Pferd.
Kurz wird ein Foto der Mitarbeiter der Nachmittagsbetreuung eingeblendet und ich versetze meinen Freund einen spontanen Klaps auf den Oberschenkel – einer davon ist nämlich der Ex meiner kleinen Schwester! Das kann ja heiter werden, wenn sie ihren Neffen mal abholen soll.
Ein Vater, der hinter uns sitzt, fragt nach Musik-Angeboten. Die Nachmittagsfrauen sind mit der Frage ein wenig überfordert. Stammeln nur etwas davon, dass es ja mal Musik-Angebote gab, die Kinder sie aber ganz doof fanden, weil sie dann jede Woche Musik machen mussten. Versteht niemand so recht, die Antwort. Wahrscheinlich gibt es im Personal einfach niemanden, der gute Musikförderung machen kann, was wirklich schade ist. Denn eigentlich lieben doch alle Kinder Musik und ein paar Flöten und andere kleine Instrumente ließen sich bestimmt auftreiben oder durch Spenden finanzieren. Aber da steckt man ja nicht drin... Oder wie das heißt.
Natürlich machen wir einen Stuhlkreis
Endlich – nach einer Ewigkeit, wie mir scheint – kommen die Lehrerinnen nach vorne. Ungeduldig rutsche ich auf meinen Stuhl hin und her. Unsere Nachbarin, die neben mir sitzt, flüstert mir zu: „Oh, hoffentlich kommen unsere Jungs in die Klasse von der jungen Dunkelhaaringen. Mein Sohn mag Dunkelhaarige. Das erste Mal verliebt war er in ein türkisches Mädchen!“ Wie bitte? Verliebt?! Meinem Sohn sind Mädchen irgendwie vollkommen egal. Klar, er spielt mit dem Mädchen von Nebenan, aber von verliebt war da nie die Rede. Er hat eine beste Freundin, aber sie ist sein Bro, sie spielen mit Dinos und Lego Star Wars und tragen die gleichen Klamotten mit Toten- und T-Rex-Köpfen drauf. Bevorzugt er irgendeine Haarfarbe bei seinen weiblichen Kontaktpersonen? Eigentlich nicht. Oh! Unser Name! Wir sind bei der jungen Dunkelhaaringen! Da sie zum ersten Mal eine erste Klasse übernimmt, wird ihr die Lehrerin zur Seite stehen, die ich noch von früher kenne. Wie gut, dass ich in der Grundschule noch eine sehr vorbildliche Schülerin war und Auflehnung gegen das Establishment noch nicht zu meinen liebsten Hobbys zählte. Über die weiterführende Schule für das Kind müssen wir dann nochmal nachdenken, wenn es soweit ist. Obwohl ich jetzt schon mit sicherer Wahrscheinlichkeit sagen kann, dass – sollte es nach mir gehen – er die ehemalige Schule seines Vaters besuchen wird. Er hat keinen scharlachroten Buchstaben (in jeder Hinsicht) getragen.
17 Kinder sind in jeder Klasse. Eine gute Zahl. Nicht zu viele, nicht zu wenige. Eine sehr gute Zahl. Wir folgen den Lehrerinnen in einen Klassenraum, der nicht unserer ist. Dieser ist nämlich noch besetzt von einer vierten Klasse. Natürlich machen wir einen Stuhlkreis. Alle stellen sich der Reihe nach vor. Einige Eltern können nur bruchstückhaft Deutsch sprechen, am Akzent und am Namen erkenne ich, dass sie aus Russland bzw. der ehemaligen Sowjetunion kommen. Kurz überlege ich, ob ich als Übersetzer einspringen soll, entscheide mich aber dagegen, es in dieser großen Runde anzubieten. Manchmal passiert es doch, dass ich nachdenke, bevor ich rede, ich bin ganz stolz auf mich. Jedes Elternteil/-paar bekommt eine Mappe mit dem Namen seines Kindes und Informationen zum Ablauf der Einschulung, einer Liste mit Unterrichtsmaterialien und dem Bogen für die Anmeldung zur Nachmittagsbetreuung. So viele Informationen, so viel zu tun, so viel Geld! Irgendjemand hat mal ausgerechnet, was so ein Kind kostet, bevor es halbwegs auf eigenen Beinen steht. Eine Menge. 120.000 Euro ungefähr, Studium nicht mitgerechnet. Neulich sagte mein Sohn zu mir: „Mama, ich will keine Kinder.“ „Wieso denn nicht?“, frage ich erstaunt, weil mein letzter Stand noch der war, dass er keine Frau will und sich ein Kind „aloptiert“. „Erstens machen Kinder ganz schön viel Arbeit. Und zweitens will ich nicht mein ganzes Geld für sie ausgeben“, antwortete mein damals Fünfjähriger trocken. Von wem hat er das denn?, dachte ich. Von uns bestimmt nicht. Klar, wir kaufen ihm längst nicht alles, was er verlangt. Wir versuchen, ihm einen verantwortungsbewussten Umgang mit Geld beizubringen, er bekommt Taschengeld und Kupfergeldspenden, die er in einer Spardose sammelt und dann selbst in Schleich-Dinos, Bücher und Hörspiele investieren kann. Aber niemals haben wir zu ihm gesagt, dass es uns schwerfällt oder dass wir kein Geld für ihn ausgeben wollen, dass er eine finanzielle Belastung für uns ist. Er ist schließlich unser Kind und unsere Verantwortung und solange alles im Rahmen bleibt, geben wir sogar sehr gerne Geld für ihn aus. Kann es sein, dass er den Wert des Geldes schon soweit verstanden hatte, dass er sich gedacht hat: Ich behalte einfach alles für mich? Manchmal sind Kinder doch unheimlich, besonders, wenn sie denken wie manche Erwachsene.
Bevor wir entlassen werden, werden alle nochmal darauf hingewiesen, dass pro einzuschulendem Kind nur drei Erwachsene an der Feier in der kleinen Schulturnhalle teilnehmen können. Unsere Nachbarin macht den nicht allzu ernst gemeinten Vorschlag, man könnte seine übrige Karte verkaufen, wenn man sie nicht braucht. Wir lachen und ernten verständnislose Blicke. Obwohl die Idee eigentlich ganz gut ist. Wir nehmen dann mindestens zehn.