Interview: Linda Schulzki
Ich sitze einer jungen Frau gegenüber, die mich mit einem ruhigen Blick erwartungsvoll anlächelt. Deniz Gamze Ergüven hat schon den ganzen Tag Interviews gegeben und ist trotzdem die Freundlichkeit in Person. Wer die Regisseurin sieht, wird sofort an ihren Film MUSTANG erinnert, denn mit ihren vollen, dunklen und langen Haaren sieht sie selbst wie die erwachsen gewordene Protagonistin Lale aus, die zwar fiktiv ist, doch tatsächlich Gemeinsamkeiten mit ihrer Schöpferin hat. Im Laufe unseres Gesprächs wird schnell klar, dass MUSTANG eine persönliche Bedeutung für Ergüven hat, denn Parallelen zum eigenen Leben im künstlerischen Werk sind meist kein Zufall.

amicella: Warum heißt der Film MUSTANG?
Deniz Gamze Ergüven: Am Anfang, als ich nach einem Titel gesucht habe, dachte ich an Paraphrasen, dann wäre es ein langer Satz gewesen. Aber der Film brauchte einen Namen so wie ein Kind ihn braucht. Es gab viele kleine Dinge, die mich zum Namen MUSTANG geführt haben. Im Script steht, dass Lale etwas Wildes wie ein Tier hat und die Mädchen sehen mit ihren langen Haaren wie eine Horde Pferde aus. Vor allem schafft der Name Bilder von Energie und Temperament. Es ist wie bei Gus Van Sants Film ELEPHANT, in dem kein Elefant vorkommt. Aber nachdem man ihn gesehen hat, kann man ihn sich nicht mit einem anderen Titel vorstellen. Sobald wir den Titel hatten, konnte ich vor meinem inneren Auge dieses bestimmte Mädchen sehen.

Du hast mit deinem ersten Kinofilm gleich einen Hit bei Cannes gelandet ...
Die Sache ist die: Es ist wie eine Welle, in der man ist. Wenn du zusiehst wie etwas wächst, eine Welle oder ein Kind, dann springst du nicht von einem Schritt zum nächsten. An dem Tag, als der Film in Frankreich rauskam, hätte der Film in jede Richtung gehen können. In dem Moment, wenn die Würfel gefallen sind, kannst du nichts mehr machen. Und ich dachte nur so: Mein Gott, er ist auf Türkisch, ich muss die Leute anflehen ihn anzugucken. Vielleicht werden nur zwei meiner Freunde und meine Mutter ihn sehen. Das habe ich an diesem Tag gedacht, weißt du. In Cannes hab ich den Witz gemacht, dass der Film an diesem Dienstag gezeigt werden würde, dann kommen die Pressetermine am Mittwoch und am Donnerstag sind wir fertig. Aber dieser Donnerstag kam nie. Wir stecken im Mittwoch fest (lacht).

Dadurch dass der Film auf Türkisch ist, wirkt die türkische Kultur aber viel authentischer ...
Das Kino ist so ein starkes Medium, wenn es darum geht Kultur und Sprache zu vermitteln. Viele Sprachen sind uns durch Filme geläufig, z.B. Schwedisch und es ist auch ein Grund warum Englisch so machtvoll ist. Sprache ist spezifische Musik. 

Apropos Kultur. Wie viel Realität steckt in MUSTANG?
Die Sitationen der Szenen sind im Prinzip real. Zum Beispiel der Skandal, den die Mädchen auslösen, indem sie auf den Schultern der Jungs sitzen, dass sie in Reihenfolge ihres Alters geschlagen werden, oder dass Selma mitten in der Nacht ins Krankenhaus muss, weil sie nicht geblutet hat, all das ist real. Das erste Beispiel habe ich erlebt, das zweite meine Mutter. Aber die Reaktionen der Mädchen, also die Geschichte, die wir ausgehend von der Realität entwickelt haben, ist Fiktion. Als ich den Skandal auslöste, war ich beschämt und habe nichts gesagt, während die Mädchen im Film die Stühle zerbrechen und rufen "Diese Stühle habe unsere Arschlöcher berührt!" – das ist die Fiktion.

Klingt wie ein Generationenkonflikt.
Ja und Nein. Frauen geben weiter, was sie selbst gelebt haben, was dann von einer zur nächsten Generation gereicht wird. Natürlich gibt es von Generation zu Generation einen gewissen Fortschritt, dadurch dass Dinge hinterfragt werden. Trotzdem ist es möglich, dass wir das System, in dem wir aufwachsen, wiederholen.

Die Großmutter zum Beispiel scheint es gut zu meinen, obwohl sie die Situation der Mädchen verschlimmert.
Es stimmt, hinter ihren Taten steckt ein guter Wille. Sie war eingeschränkt durch die Umstände der Situation. Aber am Ende des Films, will sie genau dasselbe wie Lale. Sie will es jedoch auf ihre Art erreichen.

Ein Schlüsselmoment ist, wenn die Mädchen aus der Schule genommen warden. Wäre Bildung ihr Schlüssel zur Emanzipation gewesen?
Ich bin sehr versucht, dir zu antworten, aber Film ist so eine starke Sprache. Kino ist eine Metasprache, mit der ich so viel sagen kann. Deshalb versuche ich nicht im Nachhinein die Aussage des Films zu kommentieren. Es liegt an dir die Frage zu beantworten, denn Filme haben die Kraft der unterschwelligen Nachrichten oder Menschen von etwas zu überzeugen, die sich vom Film kritisiert fühlen, oder Empathie bei Leuten, die durch solche Werte und Charaktere verärgert werden, zu erzeugen. Es ist besser, den Film einfach sagen zu lassen, was er aussagt.

Passiert es denn häufig, dass Mädchen in der Türkei aus der Schule genommen warden?
Ja, auch das ist real. Genauso wie, dass Mädchen verheiratet werden, nicht staatlich, aber mit einer religiösen Hochzeit. Es ist nicht so, als gäbe es keine modernen Seiten der Gesellschaft. Es gibt freie Menschen. Frauen dürfen seit 1935 wählen und die Gesetze garantieren Schutz für Frauen. Nichtsdestotrotz passieren diese Dinge. Es ist eine sehr heterogene Gesellschaft. Einige Leute leben sehr traditionell, auch mit einem bestimmten Grad an Gewalt gegen Frauen. Es gibt zum Beispiel den Ehrencode, der auch zu sogenannten Ehrenmorden führt. Das passiert nicht überall, aber es ist jeden Tag in der Zeitung davon zu lesen. Es macht einen Teil der Gesellschaft aus. Auf der einen Seite sind die Leute sehr modern und schicken ihre Kinder nach Amerika zum Studieren, aber gleichzeitig ist es für Mädchen nicht möglich um 22 Uhr mit einem männlichen Freund in einem Café zu sitzen, auch wenn es nur ein gewöhnlicher Freund ist.

In Deutschland gibt es oft Diskussionen über Gleichberechtigung bei der Bezahlung oder Kinderbetreuung, aber neben MUSTANG scheinen diese Ungerechtigkeiten ertragbar …
Das sollten sie nicht. Bei der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen sollte es keine Kompromisse geben. Das ist so als würde man sagen, gut, wir haben erreicht, dass ein paar mehr auch vorne im Bus sitzen dürfen, wenn auch nicht alle, das reicht, das ist ok so. Feminismus ist fast ein obszönes Wort heutzutage. Es gibt viele Frauen, die sagen, sie seien keine Feministinnen, was nicht wirklich Sinn macht, da es bedeutet, dass es ihnen egal ist, ob Frauen gleichberechtigt sind oder nicht. Wir haben dieses Bild von Feministinnen, die LKW fahren und Achselhaare haben. Es hat so etwas unglamouröses an sich.

Es gibt viele Szenen über die Sexualität sowie Sexualisierung der jungen Mädchen. Gab es deswegen Probleme? Zum Beispiel mit den Eltern?
Ich bin in sowas nicht einfach reingesprungen. Wir haben uns die Zeit genommen alles genau zu besprechen und uns gegenseitig unterstützt und sind zusammengewachsen. Für Günes Sensoy, die Lale spielt, hatte ich eine lange Liste, mit allen Dingen, die auf sie zukommen würden. Ich habe mich mit ihren Eltern hingesetzt und gesagt: Sie wird im einem Badeanzug und in Unterwäsche zu sehen sein und sie wird mit dem Tod und sexuellen Missbrauch konfrontiert werden. Sie war ja erst 12 Jahre alt. Dann haben wir es oft so gemacht, dass erst ihre Mutter und dann ich mit ihr reden würde.

Gibt es einen Grund, warum die Jüngste von allen die Protagonistin ist?
Am Anfang war es einfach natürlich für mich, die Geschichte aus der Perspektive der Jüngsten zu erzählen, da ich die Jüngste einer Frauengeneration bin. Es gibt wortwörtlich Dinge, denen ich nicht entwachsen bin. Lale sieht die Dinge durch meine Augen. Das ist auch so ein Punkt an dem Realität und Fiktion verschmelzen.

Die fünf Mädchen wirken wie eine natürliche Einheit. War es schwer sie zu casten?
Ja! Innerhalb der Gruppe musste eine gewisse Immanenz vorhanden sein, die äußerliche Ähnlichkeit mit eingeschlossen. Es war Fine Tuning von Pärchen, z.B. Lale und Nur. In diesem Paar ist Nur der Sidekick und Lale die dominante Persönlichkeit der beiden. Es musste von Szene zu Szene passen. Der Casting Director hat Tausende, ich Hunderte gesehen. Monatelang habe ich die Mädchen in verschiedenen Kombinationen gesehen. Als die fünf zum ersten Mal zusammen vorgesprochen haben, war es sofort offensichtlich, dass sie die richtigen sind, weil sie sich verhalten haben, als wären sie ein Körper, als atmeteten sie zusammen. Wie Magie war die Idee eines einzelnen Charakters mit fünf Händen da. Günes war sehr viel kleiner als die anderen und sehr schmal und die Mädchen haben sie hochgehoben und hin und her geworfen. So als würden sie eine Fliege jagen, das war sehr witzig. Sie haben sofort ihre eigene Logik innerhalb der Gruppe kreiert. Ab einem gewissen Punkt hat Günes angefangen sich zu behaupten. Dieses kleine Mädchen sah aus wie eine Ballerina und plötzlich zeigte sie Temperament und kämpfte zurück und die anderen Mädchen haben sie einfach machen lassen. Sie war nur so groß (hält ihre Hand auf Höhe des Couchtisches ihr gegenüber) und schrie: "Hört auf damit!"

Mustang

Ab 03. März 2016 im Kino
Regie: Deniz Gamze Ergüven
Genre: Drama / Coming of Age
mit DOĞA ZEYNEP DOĞUŞLU, GÜNEŞ NEZIHE ŞENSOY, ELIT İŞCAN, TUĞBA SUNGUROĞLU, İLAYDA AKDOĞAN, NIHAL KOLDAŞ, AYBERK PEKCAN und BURAK YIĞIT

Es ist Sommeranfang. In einem kleinen Dorf, im Norden der Türkei, sind Lale und ihre vier Schwestern von der Schule auf dem Weg nach Hause und spielen dabei mit einer Gruppe Jungs. Das unschuldige Spiel löst jedoch einen Skandal aus, der unvorhergesehene Konsequenzen für die Mädchen hat. Das Familienzuhause entwickelt sich zu einem Gefängnis: Statt zur Schule zu gehen, lernen sie zu Hause den Haushalt zu führen und Hochzeiten werden arrangiert ...

Auf change.org gibt es derzeit eine Petition von Terre des Femmes, die gegen die Zwangsheirat Minderjähriger kämpft.