Interview: Linda Schulzki

Als ich ein paar Tage vor der Premiere von ALLES INKLUSIVE auf Nadja Uhl treffe, begegnet mir eine strahlend lächelnde Frau, die mit ihren 41 Jahren keinen Tag älter aussieht als Mitte 30. Ihre schulterlangen, blonden Haare sind leicht gewellt und in der Hand hält sie einen Obstteller, von dem sie zwischen ihren Interviewterminen hektisch nascht. Sie entschuldigt sich für ihren vollen Mund, ich ermuntere sie dazu noch einen Bissen zu nehmen. Sie ist so ungezwungen, dass ich mich fühle, als würde ich mit einer Freundin plaudern. 

amicella: Hund oder Katze?
Nadja Uhl: Hund. Und Katze. Ich hatte beides, also Hauptsache Tier. Aber auch Mensch (lacht).

In Alles Inklusive geht es um eine Mutter-Tochter-Beziehung. Hast du aus der Erfahrung des Films für die Beziehung zwischen dir und deiner Mutter etwas mitgenommen?
Nicht dass mir Mutter-Tochter-Konflikte fremd wären, nur hatte ich wirklich das Glück eine Mutter zu haben, die mich als Kind sehr deutlich wahrgenommen hat und nach ihrem besten Bemühen versucht hat mir ein Nest zu bauen und eine Umgebung zu schaffen, die sehr geborgen war. Das ist von Ingrid überhaupt nicht zu erkennen. Ich versteh sie aber. Das ist ein anderes Muster dem Ingrid folgt. Es gibt Gründe, warum sie ihr Kind nicht so sieht, wie Apple sich das vielleicht wünschen würde. Das sind Konstellationen, die können sich genauso gut auf mein Privatleben beziehen, aber nicht so tragisch und abgründig. Das ist eine filmische Überhöhung von der wir bei Ingrid und Apple reden.

Sind Eltern denn schuld an den Macken ihrer Kinder?
Mit dem Begriff Schuld arbeite ich nicht mehr so viel. Apple hat als Erwachsene auch nicht mehr das Recht alles auf die Mama zu schieben. In den Lasten der Eltern liegen die Ursachen für unsere und ihre eigenen Macken. Aber man kann das klären. Denn auch unsere Eltern hatten Eltern und so weiter. Das ist wirklich ein Weiterreichen von Aufgaben. Der eine möchte es unter den Teppich kehren und ärgert sich sein Leben lang warum der andere nicht auf Knopfdruck nach Schema F funktioniert und die anderen sagen: Wie kriegen wir es besser hin? Ingrid glaubt ja, dass sie alles richtig gemacht hat. Aber auch das kann man ihr nicht vorwerfen, weil sie ihr Kind nicht sieht. Diese Konstellationen entstehen aus dem Gar-Nicht-Wahrnehmen.

Du bist ja selber Mutter. Hast du manchmal Angst, dass du Fehler machst, die du gar nicht siehst?
Wie wahr, wie wahr. Angst ist ein schlechter Begleiter, aber die Situation mit den Kindern ist immer wieder so neu, dass man plötzlich denkt: Vielleicht seh ich irgendwas gar nicht. Das ist genau dieser Mechanismus, der zwischen Ingrid und Apple passiert. Das ist etwas, das wünsche ich mir nicht. Deshalb versuche ich, schon bevor ich Kinder hatte, unbewusste Mechanismen, in meinem Fall ein ungeklärtes Vater-Tochter-Verhältnis, aufzudecken. Ich hab eigentlich keine Lust meinem Vater mein Leben lang Vorwürfe zu machen, aber irgendwann muss man darüber reden, dass er nicht anwesend war. Was hat das mit einem Kind, in dem Fall mir, gemacht? Um das zu klären hab ich mir irgendwann Hilfe gesucht im Rahmen von Familienaufstellungen. Ich hoffe, dass mir das hilft, mit Fragen, die meine Kinder betreffen, verantwortungsvoll umzugehen. Kann in die Hose gehen, aber ich geb mir zumindest Mühe. Das ist das einzige, das ich mir vorwerfen würde, wenn ich meinen Kindern irgendwann sagen müsste, ich hätte mir keine Mühe gegeben.

Apples Mutter Ingrid ist ein Hippie, die völlig frei von Konventionen gelebt hat. Apple dagegen ist ein wenig verklemmt. Ist das eine Art der Rebellion, dass man so ganz anders ist als ein Elternteil?
Da gibt es mit Sicherheit kluge Bücher, die dieses Phänomen ganz klar analysiert haben. Ich mit meinem Laienverständnis würde einfach sagen, das ist der Ausgleich, der sich seinen Raum im Leben schafft. Wenn ein Kind in einer Entwurzelung aufwächst, was die Mutter als Freiheit definiert, für das Kind aber ein Fehlen von Wurzeln ist, dann wird das Kind sich selbst Halt schaffen und möglichst viele Unsicherheitsfaktoren ausklammern, aber das könnten Psychologen besser analysieren. Für mich ist das ein Modell, das ganz plausibel ist. Ich glaube, dass man irgendwie nach Halt sucht, wenn man die Haltlosigkeit so gespürt hat wie die kleine Apple. Wenn das aber so krampfhaft geschieht wie bei bei der erwachsenen Apple, dann ist es schon schwer neurotisch.

Heutzutage ist nicht mehr viel von der Hippie-Zeit zu spüren. Sind die 68er mit ihrer freie-Liebe-und Friedensmission gescheitert?
Das hatte zu der Zeit eine Berechtigung und eine Notwendigkeit. Aber das ist ja nicht alles übertragbar. Wir haben heute andere Herausforderungen, die viel versteckter sind. Da muss man sich schon positionieren, um sich in dem Wust an Informationen noch eine eigene klare Haltung zu bewahren. Wie geht man in friedlichen, rechtsstaatlichen Verhältnissen mit Widersprüchlichkeiten um? Wir sollten die Situation, dass es uns gut geht, dazu nutzen wach zu bleiben und die Dinge klar erkennen. Das ist glaub ich die Herausforderung unserer Zeit. Da würde so ein peace-iges Zulullen nicht viel bewirken. Liebe kann ja nie schaden oder? Da sind wir uns einig. Aber es ist halt verzwickter. Die Feindbilder sind komplizierter geworden als in den 60ern. Ich hab wirklich großen Respekt vor jungen Leuten. Sie wachsen in eine sehr komplexe und spannende Zeit rein. Man muss schon ziemlich auf Zack sein, um heute die Zusammenhänge zu durchschauen.

Apple fühlt sich zu Tina/Tim hingezogen – etwas sehr Unkonventionelles. Das hätte man von ihr gar nicht erwartet. Müssen wir erst die wahre Liebe finden, um von Konventionen loszulassen?
Was Doris Dörrie in Alles Inklusive aufbaut ist eine Zwiebelinszenierung. Du siehst eine Hülle und die meisten von uns scheitern an dieser Hülle, weil man an dem ersten Erscheinungsbild hängen bleibt. Dahinter gibt es eine Wahrheit, die kann mit dem Äußeren gar nichts mehr zu tun haben, und hinter der Wahrheit gibt es den Kern. Das verletzte innere Kind, die Wunden, die Seele, wie auch immer wir es nennen wollen. Ich find es ganz erstaunlich, dass ich in diesem Film so eine große Tiefe in der dritten Ebene sehe. Die inneren Kinder von Tim/Tina und Apple treffen in der Hülle der Erwachsenen in schrägen, verkorksten, grellen Hüllen aufeinander. Genauso ist es bei der Rolle, die Axel Prahl spielt. Ich hab jetzt gerade den Namen der Filmfigur vergessen.

Ähm, Helmut.
Genau, Helmut. Bei dem man auch an der Hülle kleben bleiben könnte, aber dieser Mensch hat eigentlich eine liebe und warme Ausstrahlung und ist wahrscheinlich sehr einsam. Ich find es sehr reizvoll hinter die Fassaden zu gucken. Das macht Doris auf eine sehr humorvolle Art und Weise. Man kann sich entscheiden: Kratzt man nur die erste Farbschicht ab oder guckt man in die dritte, schmerzhafte, tiefe und kostbare Ebene?

Das heißt ja auch, dass wir uns selber etwas zutrauen können, was wir selber nicht erwartet haben. Eine innere Schicht, die wir selber noch gar nicht kennen.
Da glaub ich zutiefst dran. Ich mache seit neun Jahren Familienaufstellungen. Ich hab Menschen sich so verändern gesehen. Es sind sehr liebevolle Aufstellungen, die wir machen, da finden keine Exzesse statt. Ich hör manchmal abenteuerliche Geschichten von anderen Aufstellungen. Bei uns wird das alles immer sehr gemäßigt geführt. Durch das Runterkratzen von Schichten und das Annehmen oder Ablegen von Traumatisierungen hab ich so viel Demut vor der menschlichen Existenz bekommen. Da sind oft so schöne Dinge verborgen. Viele bleiben bis zum Tod, gerade unsere Großeltern, in den Traumamustern verhaftet, weil es nicht üblich war über diese Dinge zu sprechen. Wir sind eine Generation, in der es überhaupt nicht mehr schlimm ist über therapeutische Wege zu reden. Alle sind auf der Suche und möchten Dinge bereinigen. Wollen wissen, warum es Eltern-Kind-Konflikte gibt. Das sind andere Bewusstseinsprozesse. Das verpflichtet uns aber auch einen liebevolleren Blick auf die vorangegangenen Generationen zu entwickeln, meiner Meinung nach. Und aus den Schuldzuweisungen rauszukommen.

In Alles Inklusive gibt es eine Szene, in der Apple aus einer Sado-Maso-Situation flieht. Solche Themen werden ganz offen diskutiert, als wäre es normal, dass sich jeder an sowas herantraut. Sind wir heute "oversexed and underfucked"?
(lacht) Was für eine herrliche Beschreibung. Das muss ich dir unbedingt klauen. Sag jetzt nicht, dass das von dir ist.

Ne, das ist nicht von mir.
Ich komm mir manchmal vor, als wäre ich die einzige letzte Langweilerin, die sowas nicht betreibt. Wer Grenzen ausloten will, gern, so lange es keinem weh tut. Es ist mir letztlich auch egal, nur es wird so oft thematisiert, das find ich alles so überreizt. Alles ist irgendwie so sexualisiert. Wir haben vorhin in anderen Gesprächen über FKK-Strände gesprochen. Als Kinder waren wir oft an FKK-Stränden und das war so normal und hatte keinen komischen Beigeschmack. Das ist heute verloren gegangen. Manchmal ist es das Geheimnis, das am meisten sexy ist. Im Stillen genießen. Das Schweigen.

Alles Inklusive

ab 06.03.2014 im Kino

Zum Inhalt: Die neurotische Singlefrau Apple betrachtet ihren Hund "Dr. Siegmund Freud" als Therapeut und ihre Probleme mit Männern schiebt sie auf die Erziehung ihrer Hippie-Mutter Ingrid. Beide Frauen müssen sich gemeinsam ihrer Vergangenheit stellen.

Regie: Doris Dörrie
im Verleih von Constantin Film
mit Hannelore Elsner, Nadja Uhl, Hinnerk Schönemann, Axel Prahl, Natalia Avelon, Robert Stadlober